Historie
Der Gedanke, dass die Gemeinschaft für die Existenz und das Wohlergehen ihrer Mitglieder sorgen soll, ist so alt wie die Menschheit. Im christlich geprägten europäischen Mittelalter wurden Nächstenliebe und Barmherzigkeit gegenüber den Armen von Thomas von Aquin zum Gebot erhoben. Die bedürftigen Menschen sollten ein Almosen erhalten, um ihnen damit das Überleben zu sichern.
Durch die Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse wurde es aber notwendig, die auf Barmherzigkeit fußende Armenfürsorge durch eine öffentlich-institutionelle Armenfürsorge zu ersetzen, die u.a. mit Zwangsarbeitsmaßnahmen verbunden war. Diese staatlich organisierte Armenunterstützung diente so hauptsächlich dazu, die Menschen in die kapitalistische Lohnarbeit zu zwingen.
Dem Engländer Thomas Morus und dem Spanier Juan Luis Vives wird oft fälschlicherweise nachgesagt, sie hätten erste Ideen für ein garantiertes Einkommen entwickelt. Sie sprachen sich aber lediglich für recht karge Mindestsicherungen aus, die zudem noch mit dem Zwang zur Arbeit verbunden waren. Am Ausgangspunkt der öffentlich-rechtlich organisierten Armutsbekämpfung stand nicht die Idee einer Einkommensgarantie, sondern die Durchsetzung einer diskriminierenden, stigmatisierenden und repressiven Grundversorgung der Armen. Sie können als die Vorläufer der heutigen „Hartz IV“-Gesetzgebung gelten.
Etwas fortschrittlicher war der Engländer Thomas Paine. Aber auch er war nicht für ein Grundeinkommen, sondern trat lediglich für eine einmalige Grundausstattung für alle Jungen und für eine naturrechtlich begründete Grundrente für alle Alten ein.
Als Vorvater des Grundeinkommens in seiner heutigen Form darf wohl der Engländer Thomas Spence (1750-1814) bezeichnet werden. Er schlug in seinem Essay „The rights of infants“ als Erster eine lebenslange und regelmäßige Zahlung eines Grundeinkommens an alle Mitglieder eines Gemeinwesens vor. Dieses naturrechtlich begründete Grundeinkommen sollte Armut abschaffen.
Der Franzose Victor Considerant und der Belgier Joseph Charlier sowie belgische Egalitaristen und Sozialisten um die Gebrüder Kats entwickelten ebenso Modelle partieller Grundeinkommen.
Auch der deutsche Philosoph Karl Marx mit seiner Vorstellung einer Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist und der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner mit seiner Theorie der sozialen Dreigliederung und der darin enthaltenen Trennung von Arbeit und Einkommen (auf die sich „dm“-Gründer Götz Werner bei seinem Grundeinkommensmodell beruft) vertraten humanistische Denkmodelle. Die Idee des Grundeinkommens entwickelten sie aber nicht.
Historisch gesehen sind grob skizziert zwei verschiedene Richtungen zu erkennen: Einerseits die Linie der Armenversorgung, die mit ihren diskriminierenden und repressiven Elementen bis zu den heutigen Grundsicherungssystemen à la „Hartz IV“ führt. Auf der anderen Seite steht die Linie, die mit den Ideen einer universellen monetären Leistung sowie Vorschlägen für einen freien Zugang von öffentlichen Dienstleistungen und die unentgeltliche Nutzung der Infrastruktur für alle als Ideengeber für ein Bedingungslose Grundeinkommen genannt werden kann. Beide Linien werden oft fahrlässig vermischt.
Jüngere Geschichte des BGE in Deutschland
In Deutschland wurde die Forderung nach einem Grundeinkommen erstmals von den unabhängigen Erwerbsloseninitiativen im Jahr 1982 erhoben. In Abgrenzung zu gewerkschaftlich organisierten Erwerbsloseninitiativen lehnten sie erzwungene Lohnarbeit ab und forderten alternativ ein existenz- und teilhabesicherndes Einkommen für alle (das Grundeinkommen).
In den Folgejahren fristete das Grundeinkommen aber ein Nischendasein in der gesellschaftlichen Debatte. Auf der wissenschaftlichen Ebene wurden zwar weitere Erkenntnisse diskutiert und vertieft, z.B. dass die existenzielle Absicherung aller durch Lohnarbeit nicht möglich sei und die Trennung von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit endlich vollzogen werden müsse. Sie flossen aber in die gesellschaftspolitische Debatte noch nicht ein.
Erst mit der von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Agenda 2010 und den darin enthaltenen sogenannten Arbeitsmarktreformen („Hartz IV“) bekam die Debatte um das Bedingungslose Grundeinkommen einen neuen Schub.
Bereits im Vorfeld der Agenda 2010 hatten die unabhängigen Erwerbsloseninitiativen (Existenzgeldkongress 1999) ihre Forderung nach einem teilhabe- und existenzsichernden Einkommen für alle erneuert. Der Kongress brachte aber noch keinen Durchbruch in der Debatte um das Grundeinkommen.
In den ersten Jahren des angehenden 20. Jahrhunderts allerdings verschärfte sich der politische und intellektuelle Widerstand gegen den von Rot-Grün eingeleiteten Sozialabbau.
Das globalisierungskritische Netzwerk Attac-Deutschland hatte 2003 den Schwerpunkt „Genug für alle“ mit den Kernaussagen einer Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum und dem freien Zugang zu den natürlichen Ressourcen des Planeten beschlossen. Daraus entwickelte die Attac-AG „Genug für alle“ ihr Konzept eines Grundeinkommens.
Ebenfalls im Jahr 2003 wurde von Wissenschaftler*innen die Initiative „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ gegründet. Für die Initiative ist das anachronistische Festhalten am Ziel der Vollbeschäftigung mit unsozialen Folgen verbunden – darum setzt sie sich für ein BGE ein, das allen Menschen mehr Freiheit bringen kann. Prof. Dr. Sascha Liebermann, einer der Gründer der Initiative, referierte dazu im Jahr 2009 im Lebensgarten in Steyerberg (siehe Entwicklung in Nienburg/Weser auf der nächsten Seite).
Am 9. Juli 2004, dem Tag, an dem der Bundesrat dem weiteren Sozialabbau durch die „Hartz IV“-Gesetzgebung zustimmte, wurde das bundesweite Netzwerk Grundeinkommen gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten u.a. Birgit Zenker von der katholischen Arbeitnehmerbewegung, die damalige stellvertretende Vorsitzende der PDS, Katja Kipping und der Erwerbslosenaktivist Ronald Blaschke. Das Netzwerk hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen partei- und weltanschaulich unabhängigen Diskurs über das Grundeinkommen in der Gesellschaft voranzubringen. Es folgt dabei keinem bestimmten Modell oder Erklärungsansatz. Die BI BGE Nienburg ist seit 2011 Regionalinitiative des Netzwerks Grundeinkommen.
Der „dm“-Gründer Götz Werner ging im Jahr 2004 mit seiner Konzeption eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) medienwirksam in die Öffentlichkeit. Er bezeichnete es als Kulturimpuls. In seinen Überlegungen zum Grundeinkommen beruft er sich auf die auf Rudolf Steiner zurückgehende Idee der sozialen Dreigliederung und auf ein anthroposophisches Menschenbild. Es ist ein Verdienst von Götz Werner, dass das BGE in der Öffentlichkeit bekannt wurde.
Ab dem Jahre 2008 wurde vom Netzwerk Grundeinkommen eine alljährlich wiederkehrende internationale Woche des Grundeinkommens durchgeführt, in der regionale mit bundesweiten Aktivitäten vernetzt wurden.
In den politischen Parteien wird das Grundeinkommen zunehmend diskutiert. Erst kürzlich – im November 2020 – nahmen die Grünen auf Initiative ihres Netzwerks Grünes Grundeinkommen die „Leitidee des BGE“ in ihr neues Grundsatzprogramm auf. Bei der Partei Die Linke gibt es mit der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Grundeinkommen sowie den Landesarbeitsgemeinschaften starke Initiativen für ein Grundeinkommen. Auch in der SPD wird das BGE von einigen Mitgliedern positiv gesehen. Immerhin ist die Partei mittlerweile für eine Kindergrundsicherung, wie sie auch von den Linken und den Grünen diskutiert wird und die als ein Schritt zum Grundeinkommen gesehen werden kann.
Auftrieb erhielt die Idee mit dem Aufkommen der Piratenpartei, die sich die Forderung 2012 ins Grundsatzprogramm schrieb. 2017 trat mit dem „Bündnis Grundeinkommen“ eine Ein-Themen-Partei erstmals zur Bundestagswahl an.
Sogar in der CDU wurde das Grundeinkommen in Form des „Bürgergeldes“ diskutiert, das Dieter Althaus, der ehemalige Ministerpräsident Thüringens, zur Diskussion gestellt hatte. In der Union überwiegt aber mittlerweile die Ablehnungsfront.
Insgesamt nahm die Debatte um das Grundeinkommen in den 2000er-Jahren deutlich an Fahrt auf, was einerseits mit der zunehmenden Verarmung der Bevölkerung durch die Agenda-2010-Gesetzgebung und der Suche nach Alternativen erklärt werden kann. Andererseits trug die bessere Organisation und das Zunehmen von BGE-Initiativen dazu bei.
Die Entwicklung in Nienburg/Weser
Auch am Landkreis Nienburg/Weser ging diese Entwicklung nicht vorüber. Im Juli 2009 fand eine Diskussionsveranstaltung zum Bedingungslosen Grundeinkommen vom Diakonischen Werk Nienburg statt. Anfang 2010 führte der Lebensgarten Steyerberg eine Veranstaltung zum BGE mit Prof. Dr. Sascha Liebermann durch. Direkt im Anschluss fassten Dr. Friedrich Naehring, Wolfgang Kopf und ich den Entschluss, das Grundeinkommen im Landkreis Nienburg/Weser voranzubringen. Bald danach kamen sie mit weiteren Interessierten zusammen, um über die Vorgehensweise in Sachen BGE zu beraten.
Am 23. Februar 2010 traf sich erstmals eine „Nienburger Initiative Grundeinkommen“. Es wurde beschlossen, sich regelmäßig zusammenzufinden, um die Idee des Grundeinkommens in Nienburg zu verbreiten. Bei ihrem fünften Treffen im Juni 2010 beschloss die Initiative, eine Bürgerinitiative (BI) zu gründen. Bis zur Gründung der BI fanden insgesamt sieben Vorbereitungstreffen statt. Am 12. Oktober 2010 wurde dann die Bürgerinitiative BGE Nienburg offiziell gegründet.
Axel Nürge